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Montag, 11. Oktober 2010

Schocktherapie für die Wall Street: Hypothekengeber könnten schon bald wie die Dominosteine fallen

Ellen Brown

JPMorgan setzt 56.000 Zwangsvollstreckungen aus, GMAC und die Bank of America noch weit mehr. Die Einschläge kommen schnell und heftig. Wie es aussieht, könnten einige Hypothekengeber erneut große Probleme bekommen – und schon bald wieder um mildtätige Unterstützung betteln müssen.

»Vielleicht wirkt es wie eine Schocktherapie. Vielleicht bringt es tatsächlich die Kreditgeber an den Verhandlungstisch und veranlasst sie, Abkommen zu treffen, die allen nützen.«

- Der Wirtschaftswissenschaftler Karl E. Case, zitiert in der New York Times

Am 20. September hat Ally Financial Inc., der Eigentümer von GMAC Mortgage, dem viertgrößten Kreditgeber der USA, in 23 US-Bundesstaaten alle Zwangsräumungen und den Verkauf von wieder in Besitz genommenen Häusern gestoppt. Zuvor hatte ein Sachbearbeiter des Unternehmens zugegeben, Monat für Monat 10.000 Dokumente über Zwangsräumungen abgezeichnet zu haben, ohne sie vorher zu lesen. Betroffen sind die 23 Bundesstaaten, in denen Zwangsvollstreckungen zuvor von einem Gericht genehmigt werden müssen. Unter ihnen befinden sich New York, New Jersey, Connecticut, Florida und Illinois.

Am 24. September haben sich drei Abgeordnete der Demokraten im US-Repräsentantenhaus, Alan Grayson (Florida), Barney Frank (Massachusetts) und Corrine Brown (Florida) mit einem Schreiben an den Immobilienfinanzierer Fannie Mae gewandt. Sie äußern ihre Zweifel an der Beauftragung der »Zwangsvollstreckungs-Mühlen«, die sie als »Anwaltskanzleien beschrieben, die darauf spezialisiert sind, den Prozess der Zwangsvollstreckung zu beschleunigen, oft genug unter Missachtung von ordentlichem Verfahren, Substanz oder juristischer Korrektheit«. Der Brief war die Reaktion auf die Mitteilung des Büros des Justizministers von Florida vom August, demzufolge das Ministerium gegen drei Anwaltskanzleien ermittelt, die angeblich in Tausenden von Fällen Dokumente frisiert hatten, um die Genehmigung zur Zwangsvollstreckung zu erhalten.

Ebenfalls am 24. September forderte Justizminister Jerry Brown von Kalifornien den Finanzdienstleister GMAC auf, die Zwangsvollstreckungen in seinem Bundesstaat auszusetzen, bis der Kreditgeber den Nachweise erbringe, dass er der gesetzlichen Forderung nachkommt, wonach es Kreditgebern untersagt ist, Schritte zur Zwangsvollstreckung eines Hauses zu ergreifen, ohne zuvor den Versuch zu einer Einigung mit dem Kreditgeber zu unternommen zu haben. Kalifornien zählt zu den sogenannten »non-judicial foreclosure«-Staaten, in denen Zwangsvollstreckungen nicht zuvor von einem Gericht genehmigt werden müssen.

Am 28. September gab JPMorgan Chase bekannt, 56.000 Zwangsvollstreckungen würden einstweilig gestoppt, weil einige ihrer Mitarbeiter die dazu notwendigen Dokumente möglicherweise nicht mit der gebotenen Sorgfalt vorbereitet hätten. Der Aufschub gilt für alle 23 Bundesstaaten, in denen gerichtliche Genehmigungen für Zwangsvollstreckungen erforderlich sind.

Am 29. September berichtete die Washington Post, ein führender Bundes-Bankenaufseher habe sieben der größten Darlehensgeber des Landes aufgefordert, ihre Vorgehensweise bei Zwangsvollstreckungen zu überprüfen, nachdem er zuvor von weit verbreiteter missbräuchlicher Anwendung der Vorschriften bei der Zwangsräumung von Häusern erfahren hatte. Betroffen waren neben JPMorgan Chase auch die Bank of America, Citibank, HSBC, PNC Bank, U.S. Bank und Wells Frago. Die Washington Post merkte dazu an:

»Die Probleme bei den Formalitäten reichen von möglicherweise gefälschten Dokumenten bis hin zu Bankangestellten, die die Unterlagen der Kreditnehmer grundsätzlich nicht studieren, bevor sie eine Räumung abzeichnen … ›Wir gehen zwar nicht davon aus, dass unsere Prüfung ergibt, dass Verbraucher geschädigt wurden, doch falls es sich erweisen sollte, werden wir angemessen eingreifen‹, so Tom Kelly, der Sprecher von JPMorgan

Was heißt hier »nicht geschädigt«, wenn Tausende Häuser illegal, ohne ordnungsgemäßes Verfahren weggenommen wurden …?

Am 30. September stellte der Abgeordnete Alan Grayson ein erschütterndes siebenminütiges Video ins Internet. Darin präsentiert er vier reale Beispiele, die der Gerechtigkeit Hohn sprechen. Beispielsweise einen Mann, bei dem zwangsvollstreckt wurde, obwohl gar keine Hypothek auf dem Haus lastete, das er bar bezahlte. Oder ein Haus, bei dem gleich zweimal eine Zwangsvollstreckung beantragt wurde, weil beide Antragsteller behaupteten, einen Eigentumstitel zu besitzen. Ein dritter Fall betraf ein Ehepaar, bei dem zwangsvollstreckt wurde, weil eine bestrittene Gebühr in Höhe von 75 Dollar zu spät entrichtet worden war.

Grayson lastet die massiven Probleme bei Zwangsvollstreckungen hauptsächlich dem elektronischen Registrierungssystem MERS an. »Die Banken haben Hypothekentitel einfach digital in ein privatisiertes System namens Mortgage Electronic Registry System (oder MERS) übertragen. Die Transfers liefen mittels Austausch von Excel-Tabellen zwischen Banken und Trusts, anstatt die Schuldscheine zu girieren, wie gemäß ihren eigenen Verträgen, gemäß geltendem Immobilienrecht des Staates oder gemäß Vorschriften der Steuerbehörde IRS vorgeschrieben.« Er erklärte, 60 Millionen Anwesen seien auf den Namen MERS eingetragen – das sind 60 Prozent aller Hypotheken in den USA und 97 Prozent aller zwischen 2005 und 2008 vereinbarten Darlehen.

Am 1. Oktober gab die Bank of America bekannt, in 23 Bundesstaaten würden die Zwangsvollstreckungen ausgesetzt.

Am selben Tag griff Richard Blumenthal, der Justizminister von Connecticut, zu einem radikalen Mittel und legte sämtliche Zwangsvollstreckungen aller Banken in seinem Staat auf Eis.

Eine Box, aus der sich selbst Houdini* nicht befreien könnte?

Natürlich bereitet das den Banken erhebliche Kopfschmerzen, doch laut New York Times »erklären die Unternehmen, ihre Verfahrensweise zu ändern und alle Verstöße zu ahnden«. Anscheinend denken sie, das Problem wäre aus der Welt, wenn sie ein paar Formalitäten überarbeiteten. Doch wenn die Urteile verschiedener Gerichte Bestand haben, dann ist es nicht damit getan, ein paar zusätzliche Leute einzustellen und einige Unterlagen in Ordnung zu bringen. Bei sämtlichen im Namen von MERS eingetragenen Hypotheken ist nach Ansicht der Gerichte der lückenlose Eigentümernachweis unterbrochen. Humpty Dumpty ist tief gefallen und kann nicht wieder zusammengesetzt werden.**

MERS ist nur eine elektronische Datenbank. Auf der eigenen Website und bei verschiedenen Plädoyers vor Gericht wird versichert, man besäße gar nichts. MERS wurde bewusst so eingerichtet, dass »ein Bankrott unwahrscheinlich« ist. So lautete nämlich die Forderung der Kredit-Rating-Agenturen, damit die Hypotheken, die über ihre Schreibtische gingen, in hochbewertete Wertpapiere verwandelt und an Investoren verkauft werden konnten. MERS verfügt nicht nur über keine Vermögenswerte, es gibt auch keine Angestellten. Die vielen Tausend Menschen, die in ihrem Namen eidesstattliche Erklärungen unterzeichnen, sind lediglich Mittelsmänner. Mit diesem Arrangement gaben sich die Rating-Agenturen zufrieden, nicht aber die Gerichte. Immer mehr Richter urteilen, wenn MERS nichts besäße, sei MERS auch nicht berechtigt, zwangsvollstrecken oder Titel übertragen zu lassen, so dass der Treuhänder für die Investoren zwangsvollstrecken kann. MERS unterbricht den lückenlosen Eigentümernachweis, sodass niemand mehr zur Zwangsvollstreckung berechtigt ist. Die Häuser sind praktisch unbelastet.

Das heißt natürlich nicht, dass die Eigentümer der Häuser nicht jemandem Geld schuldeten. Das tun sie. Aber ein Klagebegehren beruht nicht auf »Recht« (durch vollstreckbaren Vertrag oder entsprechende Regelung), sondern auf »Billigkeit« (ein Rechtsbehelf, der der Fairness halber gewährt wird), und MERS ist nicht der richtige Kläger. Jeder MERS-Fall beinhaltet auch die Verbriefung, das heißt irgendwo sitzen Investoren, die die wahre interessierte Partei darstellen. Bevor der Hauseigentümer zur Zahlung veranlasst werden kann, müssen die Investoren nicht nur nachweisen, dass sie wirklich die Partei sind, der das Geld geschuldet wird, sondern sie müssen auch die exakte Summe angeben, welche ihnen geschuldet wird. In einigen Fällen haben sie vielleicht ihr Geld bereits erhalten, beispielsweise von Versicherern auf dem Weg über Kreditausfallversicherungen (sogenannte Credit Default Swaps, CDS), die vom Investment-Pool abgeschlossen worden waren. Die Investoren sind nur berechtigt, sich den Betrag, der ihnen geschuldet wird, wiederzuholen, nicht den vollen Betrag des ursprünglich unterzeichneten Zahlungsversprechens, denn bei dieser Vereinbarung waren sie ja nicht Partei – und ein lückenloser Eigentümernachweis lässt sich nicht erbringen.

Was geschieht in den US-Bundesstaaten, in denen Zwangsvollstreckungen nicht vom Gericht genehmigt werden müssen?

Zwangsvollstreckungen sind also von JPMorgan, der GMAC und der Bank of America in 23 US-Bundesstaaten ausgesetzt worden, aber was geschieht in den restlichen Staaten? Diese sind sogenannte »non-judicial states«, das heißt dort darf unter Bezug auf eine Verkaufsklausel im Hypothekenvertrag ohne gerichtliche Genehmigung zwangsvollstreckt werden. Dort geht man davon aus, dass ein Kreditgeber zwangsvollstrecken darf, sofern er seine Klageberechtigung nicht vor einem Richter nachweisen muss. Die Gesetze der »non-judicial«-Bundesstaaten erlauben den Verkauf eines Anwesens, um eine Forderung zu befriedigen, solange der Treuhänder die Bestimmungen bezüglich einer Verzugsrüge einhält. Das verstößt anscheinend gegen den in der Verfassung festgelegten Grundsatz eines ordnungsgemäßen Verfahrens. Doch laut Verfassung der Vereinigten Staaten gilt der Schutz eines ordnungsgemäßen Verfahrens nur in den Fällen, in denen der Staat an der Wegnahme des Besitzes beteiligt ist. Wenn hingegen zwischen zwei privaten Parteien (Hausbesitzer und Kreditgeber) ein Übertragungsvertrag oder eine Schuldverschreibung erfolgt ist, dann greift der Schutz des ordnungsgemäßen Verfahrens nicht automatisch. Der Hausbesitzer hat schriftlich eingewilligt, der Fall ist abgeschlossen.

Aber die Sache hat einen Haken: Was ist, wenn der Kreditgeber, der ursprünglich die Dokumente unterzeichnet hat, gar nicht die Partei ist, die das Anwesen zwangsvollstrecken will? Dann ist die Frage, ob diese Partei dazu überhaupt berechtigt ist. Damit wird das Ganze zu einer rechtlichen Frage – für die Gerichte eine Frage des Tatsachenbeweises. Wenn die zwangsvollstreckende Partei einen lückenlosen Eigentümernachweis erbringen kann – eine Übertragung oder Weiterübertragung vom ursprünglichen Kreditgeber an sie selbst –, dann ist der Weg frei. Doch die Gerichte urteilen immer häufiger, mit MERS sei dieser lückenlose Eigentümernachweis unterbrochen. Nach Ansicht von Neil Garfield, einem Experten für Zwangsvollstreckungen, müssten Investoren selbst in den Staaten, in denen eine gerichtliche Genehmigung für eine Zwangsvollstreckung nicht erforderlich ist, verpflichtet sein, ihren Antrag vor Gericht zu belegen. Und in dem Fall fahren sie mit MERS an die Wand. Garfield kommt zu dem Schluss:

»Man wird sich an den Kopf fassen, wenn Titelinhabern, Rechtsanwälten, Richtern, Verwaltungsbehörden und Urkundsbeamten plötzlich bewusst wird, dass das Monster, das die Wall Street geschaffen hat, bis in die Grundbücher von Kreisen im ganzen Land wirkt. Ich glaube, dass nicht mehr als sechs oder sieben Prozent aller Zwangsvollstreckungen in den letzten zehn Jahren dazu geführt haben, dass nun irgendjemand einen eindeutigen Titel in der Hand hält. Nur der ursprüngliche Inhaber kann Abhilfe schaffen. Dieser Hausbesitzer befindet sich, ohne es zu wissen, in einer für ihn selbst äußerst günstigen Position. Millionen Menschen, die GLAUBEN, sie hätten ihr Haus verloren, besitzen es in Wirklichkeit noch immer. Wenn nun jemand eine Unterschrift von ihnen braucht, um seinen klaren Rechtsanspruch zu belegen, dann wird er teuer dafür bezahlen müssen, und das ist auch richtig so. Endlich wird das Portemonnaie wieder an den zurückgegeben, dem es ursprünglich geklaut wurde.«

Subventionieren oder verstaatlichen?

Was geschieht nun mit JPMorgan, GMAC, der Bank of America und den anderen großen Kreditgebern? Investoren haben massive Forderungen an diese Banken, Hauseigentümer ebenfalls. Eine große Rechtstitelversicherung hat bereits erklärt, sie werde bis auf Weiteres keine Titel für Anwesen versichern, die von GMAC zwangsvollstreckt werden. Moody’s überprüft bereits die sogenannten Servicer-Ratings für GMAC und JPMorgan Chase auf eine mögliche Herabstufung. Das Finanzministerium hat die Aufsichtsbehörden zu Ermittlungen aufgefordert.

Der Investmentberater Christopher Whalen erwartet, dass wir schon bald weitere Bankrotte an der Wall Street erleben könnten. Wenn es tatsächlich so kommt, dann tappen wir hoffentlich nicht in die Falle und übernehmen die Verluste, während die Banken ihre Gewinne behalten dürfen. Wenn »wir, das Volk« die Zeche bezahlen sollen, dann sollten wir darauf bestehen, dass wir dann die Banken auch übernehmen.

_________

* Harry Houdini war Anfang des 20. Jahrhunderts in den USA als Entfesselungskünstler bekannt.

** Der Satz bezieht sich auf einen bekannten englischen Kinderreim:

Humpty Dumpty sat on a wall,

Humpty Dumpty made a big fall,

All the King’s horses,

And all the King’s men

Couldn’t put Humpty together again.

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