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Donnerstag, 14. Oktober 2010

»Umgekehrte Mehrheitsentscheidung« oder die Abschaffung der Demokratie in Europa

Niki Vogt

Herrmann van Rompuy hat vorgeschlagen, demokratische Gepflogenheiten auf den Kopf zu stellen. Künftig sollen alle Entscheidungen der EU-Kommission automatisch Geltung haben – es sei denn, die Regierungen der Länder widersprechen ausdrücklich. Dieser neue Griff heißt: umgekehrte Mehrheitsentscheidung.

In Diktaturen gewöhnt man sich an, Nachrichten, Bücher, Theaterstücke »gegen den Strich« zu lesen. Das war immer und zu jeder Zeit so. In den Jahren der Restauration nach den Befreiungskriegen im 19. Jahrhundert versuchte man, sich aus den Fängen der Zensur zu lösen, indem man ganz besonders lange Elaborate veröffentlichte. Bücher und Pamphlete, so dachten die Vertreter der Staatsmacht, seien umso weniger gefährlich, je umfangreicher sie sind. Und ob im Dritten Reich oder in der DDR: Leser mussten kreativ sein, um versteckte Kritik am Regime zu erkennen. Witze transportierten oft mehr politische Wahrheit als eine Aktuelle Kamera des DDR-Staatsfernsehens.

Und wenn sich auch die äußeren Bedingungen geändert haben – Freiheitsentzug läuft heute subtiler ab –, man muss doch oft genau hinschauen, um die wirkliche Bedeutung einer Information zu verstehen. Das ist in den Bereichen, die mit der Europäischen Union zu tun haben, besonders augenfällig. Zeitungen oder Nachrichtenmagazine weisen kurioserweise nicht auf die tatsächliche Bedeutung und Tragweite von Entscheidungen hin. Warum dies so ist, darüber kann man nur spekulieren. Dass dies so ist, steht leider fest.

Ein solches Ereignis stellte sich Ende September ein, als sich die EU-Finanzminister in Brüssel getroffen hatten, um über die »härtere Anwendung des Stabilitätspaktes« Einigung zu erzielen. Allein schon diese Sprachregelung ist kurios: Denn, so fragt man sich, was ist eine härtere Anwendung des Stabilitätspaktes? Diese Übereinkunft war bekanntlich ein Zugeständnis an jene, die es für unmöglich hielten und halten, dass Volkswirtschaften mit derartig unterschiedlichen Voraussetzungen, wie das in Europa der Fall ist, tatsächlich eine Gemeinschaftswährung schaffen und erhalten können. Und eine Antwort auf diese Bedenken war der Stabilitätspakt, der den Mitgliedsstaaten verbieten soll, unbegrenzt Schulden zu machen. Schulden, die zu Inflation und Wirtschaftskrise führen würden.

Dass so etwas nicht funktioniert, konnte man jüngst in Griechenland sehen – in Portugal, Irland und anderen Staaten bestätigt sich das jetzt ebenfalls. Wenn es nun eine »härtere Anwendung des Stabilitätspaktes« geben soll, dann müsste es auch eine weniger harte oder eine noch härtere Anwendung geben – ganz nach Wunsch sozusagen. Dabei müsste eine rechtsstaatliche und demokratische Regelung entweder eingehalten werden oder nicht – und dann müsste sie sanktioniert werden. So schafft Beliebigkeit einen gleichsam anarchischen Zustand. Anarchie, also Gesetzlosigkeit kann entstehen, wenn man keine Gesetze und Regelungen hat – oder zu viele.

Das Nachrichtenmagazin Der Spiegel titelte also nun in einem Beitrag zu dem Thema am 28. September: »EU-Staaten ringen um Defizitsanktionen«. Zutreffender wäre aber die Überschrift gewesen: »EU will Souveränitätsrechte und Demokratie aushebeln«. Denn im Kern, das kann man im Spiegel-Beitrag, exemplarisch für die gesamte Berichterstattung zu diesem Thema erkennen, ging es bei dem EU-Finanzministertreffen in Wirklichkeit um die geplante Beschneidung von Souveränität und die Einebnung demokratischer Strukturen. Dass die Sanktionen für Schuldensünder zentral geregelt werden sollen, steht im eklatanten Widerspruch zum Budgetrecht der nationalen Parlamente. Das Budgetrecht ist bereits in den Monarchien des 19. Jahrhunderts das erste zentrale Souveränitätsrecht der Bürger gewesen. Selbst Wilhelm II. musste vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges in den Zeiten einer nach außen hin glanzvollen Herrschaft um sein Kriegsbudget bei den Parteien des Reichstages werben.

Dieses Parlamentsrecht aber ist im neuen Europa fast gänzlich über die Schuldenkontrolle ausgehebelt worden. Volkswirtschaftler mahnen seit Jahren: Schulden sind nicht gleich Schulden. Welche Höhe von Verbindlichkeiten wirtschaftlich gesund ist, kommt oft auf regionale Voraussetzungen an. In Deutschland, das demokratisch subsidiar von unten nach oben organisiert ist, wird die Finanzhoheit von der Kommune über die Länder und jetzt auch bis zum Bund hin inzwischen überwiegend fremdbestimmt. Über wesentliche Haushaltsposten ist im Kern kaum mehr zu beraten, weil die Aufgaben von der EU zu einem hohen Prozentsatz bereits festgelegt worden sind. Der letzte Spielraum, nämlich die Kreditaufnahme, soll den nationalen Regierungen nun mit Sanktionen komplett genommen werden. Haushaltsberatungen könnte man sich am Ende sparen: Denn die verliefen dann, wie früher in der DDR, nach einem festen Plan.

Über diese Konsequenz wird der Leser im Spiegel aber ebenso wenig informiert, wie über die Tatsache, dass wesentliche demokratische Spielregeln auf europäischer Ebene mit den Vorschlägen des Präsidenten des Europäischen Rates van Rompuy außer Kraft gesetzt werden sollen. Denn um die Sanktionen zügig zu beschließen, so schlug van Rompuy vor, müssten die Mehrheitsentscheidungen bald »ungekehrt« erfolgen. Das soll bedeuten: Wenn die EU-Kommission künftig etwas beschließt, würde es gleichsam automatisch durchgesetzt werden, es sei denn, eine Mehrheit der Mitgliedsländer würde es ausdrücklich ablehnen. Das entspricht der in vielen Bereichen auch schon üblichen Beweisumkehr im Strafrecht, nach der einem in vielen Fällen nicht mehr die Schuld bewiesen werden muss. Der Beschuldigte hat bereits häufig, besonders bei sogenannten Meinungsdelikten, seine Unschuld zu beweisen. Mit einem klassischen Demokratieverständnis und der viel zitierten »Unschuldsvermutung« hat diese Vorgehensweise allerdings kaum noch etwas zu tun.

Dass man zu diesem Mittel greift, dokumentiert nicht zuletzt auch die absolute Hilflosigkeit der EU-Bürokraten. Denn zurzeit ist es so, dass sich von 27 Mitgliedsstaaten lediglich drei an die Stabilitätskriterien halten. Statt aber die Gemeinschaftswährung als solche infrage zu stellen, wird die Demokratie abgebaut. Was zurzeit nur für die Schuldensünder gelten soll, könnte schon bald auf andere Bereiche übertragen werden. Van Rompuy ließ daran keinen Zweifel, als er betonte: »Wo immer möglich, sollen die Entscheidungsregeln über Sanktionen automatisch erfolgen und auf einer umgekehrten Mehrheitsentscheidung beruhen, was bedeutet, ein Vorschlag der Kommission wird angenommen, außer er wird durch den Rat abgelehnt.« Überflüssig zu bemerken, dass weder der Rat noch die EU-Kommission selbst demokratisch legitimiert sind oder im Zuge der Gewaltenteilung irgendeiner Kontrolle unterliegen.

Die tiefe Skepsis vor demokratischer Souveränität hatte bereits der Präsident der EU-Kommission José Manuel Barroso zum Ausdruck gebracht: »Regierungen liegen nicht immer richtig. Wenn Regierungen immer Recht hätten, dann wären wir nicht in der heutigen Situation. Entscheidungen der meisten demokratischen Institutionen der Welt sind oft falsch.«

Noch größer ist deshalb die Skepsis vor Volksentscheiden, die man in Deutschland noch immer vehement ablehnt, weil die etablierten Parteien dem Volk die nötige Weitsicht und Souveränität absprechen. Jetzt aber sollen diese Souveränität noch nicht einmal die gewählten Parlamente ausüben dürfen. Das ist eine gefährliche Entwicklung, die stark an das »Demokratieverständnis« der DDR erinnert. In dieser Diktatur wurde konsequenterweise komplett darauf verzichtet, unterschiedliche Politikentwürfe wählen zu können. So wie heute noch immer in Nordkorea, China oder Kuba ging es höchstens darum, unter verschiedenen Protagonisten derselben Ideologie auswählen zu dürfen.

Dass die Presse auf diese Gefahr nicht hinweist, lässt sich letztendlich nur mit Lobbyinteressen erklären und mit einer immer offensichtlicher werdenden Symbiose mit den regierenden Eliten. Dass so etwas nicht auf Dauer aufgeht, sieht man an dem Erstarken rechtspopulistischer Bewegungen in ganz Europa, aber auch auf politisch gänzlich anderer Seite beim Phänomen Stuttgart 21. Die Bürger lesen und sehen bereits »gegen den Strich«.

Und neue Kommunikationsformen, meist durch das Internet begünstigt, haben die Deutungshoheit der Eliten längst aufgehoben. Der Unmut wächst. Vorstöße wie die von Herrmann van Rompuy werden diesen noch weiter anfachen.

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